Wie viel Abwei­chung vom Gleichstellungsgrundsatz im AÜG ist erlaubt?

Im Grundsatz müssen Leiharbeitnehmer zu den gleichen wesentlichen Arbeitsbedingungen beschäftigt werden wie vergleichbare Stammarbeitnehmer im Betrieb des Entleihers (Equal-Treatment). Zu den wesentlichen Arbeitsbedingungen gehört neben bspw. Arbeitszeit und Urlaub insbesondere die Vergütung, die in gleicher Höhe zu gewähren ist (Equal-Pay). Dieser Gleichstellungsgrundsatz beruht auf Unionsrecht, nämlich Art. 5 der Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG (Richtlinie).

 

Aber die EU-Richtlinie legt auch Ausnahmen fest: "In Bezug auf das Arbeitsentgelt können die Mitgliedstaaten nach Anhörung der Sozialpartner die Möglichkeit vorsehen, dass vom Grundsatz des Absatzes 1 abgewichen wird, wenn Leiharbeitnehmer, die einen unbefristeten Vertrag mit dem Leiharbeitsunternehmen abgeschlossen haben, auch in der Zeit zwischen den Überlassungen bezahlt werden"(Artikel 5 (2) der Richtlinie).

 

Zusätzlich wir in der Richtlinie ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Tarifverträge zulässig sind. "Die Mitgliedstaaten können nach Anhörung der Sozialpartner diesen die Möglichkeit einräumen, auf der geeigneten Ebene und nach Maßgabe der von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen Tarifverträge aufrechtzuerhalten oder zu schließen, die unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern, welche von den in Absatz 1 aufgeführten Regelungen abweichen können, enthalten können(Artikel 5 (3) der Richtlinie)

 

Außerdem läßt die EU-Richtlinie Wartezeiten bis zur Gleichstellung zu (Artikel 5 (4) der Richtlinie). Dies alles ist möglich wenn der "Gesamtschutz des Arbeitnehmers gewährleistet ist".

 

Im konkreten Fall machte die klagende  Person Lohnansprüche auf die Differenz ihres Lohnes im Verhältnis zum Lohn vergleichbarer Stammarbeitnehmer des Entleihbetriebes geltend. Ihr Stundenlohn habe nur 70% des Stundenlohns vergleichbarer Stammarbeitnehmer betragen. Die Hauptargumente:

 

 

"Es sei nicht von der Leiharbeitsrichtlinie gedeckt, dass das AÜG eine nur vertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag ausreichen lasse, um den Gleichstellungsgrundsatz auszuhebeln. Der Tarifvertrag müsse vielmehr unmittelbar zur Anwendung kommen. Darüber hinaus bestünde die Möglichkeit einer Abweichung überhaupt nur insoweit, wie der tarifliche Schutz im Verhältnis zur Stammbelegschaft insgesamt gleichwertig bleibe. Der geforderte „Gesamtschutz“ sei jedoch bereits wegen der erheblich geringeren Vergütung (70%) nicht mehr gewahrt."

 

Das BAG hat sich einer Auslegung der Richtlinie zu den streitigen Punkten zu Recht enthalten und den EuGH mit umfassenden Vorlagefragen um Klärung ersucht. Insbesondere, ob der unionsrechtlich geforderte Gesamtschutz abstrakt anhand der Besonderheiten der Leiharbeit ermittelt werden kann oder ein Vergleich mit Stammarbeitnehmern des Entleihers nötig ist, soll nun vom EuGH geklärt werden.

 

Mit Blick auf die nach deutschem Recht vermutete Angemessenheit tariflicher Regelungen fragt das BAG weiter, ob die Voraussetzungen des geforderten Gesamtschutzes gesetzlich definiert sein müssen. Sollte dies der Fall sein, stellt sich die Frage, inwieweit Tarifverträge künftig einer Inhaltskontrolle unterliegen und welche Grenzen sich aus dem Schutz der Tarifautonomie ergeben, der nach Art. 28 der Europäischen Grundrechtecharta zu beachten ist.

 

Nicht vom Vorlageersuchen umfasst ist die Frage, ob eine einzelvertragliche Bezugnahme auf tarifliche Regelungen ausreichend ist, um eine Ausnahme vom Grundsatz der Gleichstellung zu begründen. Das BAG hatte diese Frage jedoch indirekt in einer früheren Entscheidung bereits bejaht. Danach müsse die Bezugnahme auf Tarifverträge der Zeitarbeitsbranche umfänglich und ohne Einschränkung erfolgen, um eine solche Ausnahme zu begründen (BAG, Urt. 16.10.2019, Az. 4 AZR 66/18). Quelle: LTO.

 

Beurteilung:  

 

1. Die grundsätzliche Verwerfung der Tarifverträge ist vom EUGH nicht zu erwarten. 

2. Bei befristet abgeschlossenen Arbeitsverträge kann es sein, dass die tarifliche Ausnahme nicht mehr möglich ist (siehe Artikel 5 der EU-Richtlinie).

3. Bei den Branchenzuschlägen ist es möglich, dass die Zuschlagsreglung nach dem 15. Einsatzmonat kippt und die gesetzliche Gleichstellung anzusetzen ist. Eventuell könnte auch bei den Branchenzuschlägen die nach 9 Monaten die allgemeine Wartezeit greift.